Reigen – Wanna play?

Verfasst für den ORF-Textfunken Literaturwettbewerb 2016. (Publikumspreis)
Text als PDF-Datei downloaden



Reigen – Wanna play? – Hörspiel

Gesendet in „Radio Burgenland Extra“, 26. Jänner 2017
gelesen von Thomas Weissengruber

 



Lesung im ORF Funksalon

Ausschnitt vom 14. Dezember 2016


Reigen – Wanna Play?

I

Ich sehe: selten Gesichter, immer Körper.
Ich rieche: nichts.
Ich höre: die Vögel vor meinem Fenster, das leise Ticken der Uhr auf dem Tisch.
Ich fühle: den Druck meines Daumens auf dem Glas des Telefons.
Oder auf etwas, das sich fast wie Glas anfühlt.
Ein Material, das mit mir kommuniziert und auf meine Berührungen reagiert.
Eine Bewegung von links nach rechts, manchmal zurück.
Ein Karussell an Bildern und Eindrücken kreist an meinem Daumen vorbei.
Ein Reigen an Männern, der unendlich ist, nie an seinen Anfang zurückkommt.
Dafür ist die Nacht zu kurz.
Trotzdem erkenne ich die Bilder wieder, die an mir vorbeiziehen.
Die Masse macht sie gleich, löscht Unterschiede aus.
Wir sind alle gleich, bis auf eine Währung, unsere Körper.
Ich denke: nichts.
Die wenigen Worte, getippt, sind keine Sprache.
Sind Bilder, die ich auswendig kenne und ohne nachzudenken in die Welt sende.
Ich weiß sofort, ob ein kurzer Dialog für eine Verbindung reicht, ein Satz oder ein Wort.
Ich weiß, welches Bild ich senden muss.
Weshalb ich eine Antwort bekomme oder nicht.
Ich bin nicht zu überraschen, denn alles hat seinen Code.
Alles ist kontrollierbar.

Adam Seymour, „G-Force“ (2013) Ruralranga.com

Adam Seymour, „G-Force“ (2013)
Ruralranga.com

Ich finde: was ich suche.
Ein Klick, ein Tonsignal. Die Nachricht ist in meinem Postfach.
Ich brauche keine weiteren Worte, keine Verführung.
Nicht hier und nicht jetzt.
Ich bin bereit. Das hier ist keine Leere.
Das hier ist ein Supermarkt, der allen etwas liefert, die bisher zu kurz gekommen sind.
Das ist ein Spiel, ein Tanz.
Ich tippe: was erwartet wird.
Ich lege das Telefon zur Seite.
Ich bin glücklich.
Ich blicke auf und meine Augen schmerzen.
Von der Stehlampe im Schlafzimmer fällt ein Lichtschein über das Parkett.
Mein Telefon wirft noch etwas Licht auf den Vorhang neben mir, sonst ist es dunkel.
Ich stehe auf und gehe ins Schlafzimmer. Niemand hier. Noch nicht.
Ich rieche: an meinen Achseln.
Ich hole den Spray aus dem Badezimmer und sorge für den Duft, der erwartet wird.
Ich rieche an der Bettdecke, am Polster. Annehmbar.
Ich nehme ein Kondom aus der Schublade und lege es bereit. Ein zweites.
Ich schmecke: die Tablette auf meiner Zunge, das Bier in meinem Mund.
Ich schlucke und warte auf die Reaktion meines Körpers.
Ich greife noch einmal in die Schublade. Ein kleines Glasfläschchen.
Ich schraube es auf und rieche: Lust.
Ich ziehe die Vorhänge zur Seite und drehe das Licht auf.
Ich schaue auf die Uhr. Leises Ticken.
Ich bleibe vor dem Spiegel stehen und betrachte meinen Körper.
Annehmbar. Ich bin noch jung genug. Noch schön genug. Gerade noch so.
Ich gehe in den Vorraum und horche an der Tür. Nichts.
Es klingelt nicht, obwohl die Uhrzeit stimmt.
Ich ziehe mich an und verlasse die Wohnung.

II

Ich sehe: nur Körper, keine Gesichter, zu Boden gerichtete Köpfe.
Es ist dunkel hier.
Ich rieche: schweren Flieder.
Ich höre: ein Rascheln, ein Kratzen. Gebrochene Äste. Schuhe auf Blättern.
Ich fühle: das Kratzen der Rinde an meinem Rücken.
Eine Bewegung des Kopfes von links nach rechts, manchmal ein Nicken.
Ein Karussell an Männern, das sich um mich dreht.
Ein Reigen an Körpern, der schnell wieder endet.
Es ist Sonntagabend und kaum Verkehr im Park.

"Betreten verboten", Daniel Schönherr

„Betreten verboten“, Daniel Schönherr

Ich denke: nichts.
Die wenigen Worte, gemurmelt, sind keine Sprache.
Sind geheime Zeichen, die ich ohne nachzudenken in die Welt sende.
Ich weiß sofort, ob ein Satz für eine Verbindung reicht, ein Wort oder ein Griff.
Ich weiß, wie Kommunikation hier funktioniert.
Alles hat seinen Code. Alles ist kontrollierbar, ist ein Tanz.
Das hier ist keine Leere, das ist ein Basar, auf dem mit Blicken und Körpern gehandelt wird.
Ich bewege mich: wie erwartet wird.
Ich lehne mich zurück und warte.
Ich stehe auf einem Weg im Park, der zum Unterholz führt.
Ich brauche keine Verführung, keine Worte.
Ich suche Neues. Unbekanntes.
Ich genieße die Vorfreude, das Warten, das Spiel.
Ich höre: die wirre Musik des Praters, das Kreischen der Jugendlichen in den Hochschaubahnen.
Ich fühle: die dumpfen Bässe.
Ich blicke auf und schaue: in Gesichter.
Der Mond wirft etwas Licht durch die Baumwipfel.
Ich drücke mich weg vom Stamm und drehe eine Runde.
Niemand hier für mich.
Noch nicht.
Ich greife in meine Hosentasche.
Ich fühle: ein Kondom.
Ein zweites.
Ein kleines Glasfläschchen. Ich schraube es auf und rieche: Lust.
Ich folge den Männern und höre:
Meine Frau darf das nicht erfahren.
Keine Angst.
Komm mit, ich wohn‘ ganz in der Nähe.
Warum denn nicht hier?
Geld hab ich keines.
Ich brauche kein Geld.
Was, wenn einer kommt und uns sieht?
Dann sind wir eben zu dritt.
Wie heißt du?
Was interessiert dich, wie ich heiße?
Ohne Namen sind wir gleich, bis auf eine Währung, unsere Körper.
Ich ziehe meine Runden.
Nur abgebrochene Gespräche, verschwindende Körper.
Ein Reigen an Männern, doch kein Kontakt.
Ich ziehe mich zurück, gebe mir selbst nicht nach.
Ich entgehe dem schlechten Gewissen und genieße das reine Spiel, die bloße Verführung, ohne –
Ich bin glücklich.
Ich höre: ein Klingeln.
Ich schaue auf die Uhr und lese: eine Nachricht.
Ich verlasse den Park.
Ich suche die Adresse.

III

Ich sehe: mein Foto, meine Worte, mein Internetprofil.
Sichtbar, überlebensgroß vor mir.
Ich fühle: den Druck meines Daumens auf Glas.
Ich höre: ein Stimmengewirr, vorbeilaufende Menschen, das Kreischen der Straßenbahn.
Eine Bewegung meines Kopfes von unten nach oben und unser Gespräch kreist an mir vorbei.
Projiziert an die Wand, auf den Screen mitten in der Stadt.
Nichts Privates mehr. Keine eindeutigen Worte.
Und trotzdem Verführung.
Ein Gespräch ohne Regeln.
Doch ich verstehe immer noch: nichts.
Das hier ist keine Sprache, ist unsere Begegnung, die in die Welt geschickt wird.
Ich weiß nicht, was mit mir geschieht.
Ich kenne den Code nicht, kann nichts kontrollieren.
Ich tippe: was soll das? was willst du von mir?
Ich blicke auf und meine Augen schmerzen.
Ich stehe auf einem Platz inmitten eines Straßengeflechts.
Ich sehe: inmitten des Platzes einen Container aus Glas.
Eine Wohnung, einsichtig und frei.
Drinnen ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl.
Neben dem Container eine Leinwand, darauf projiziert ein Karussell an Fotos und Worten.

Dries Verhoeven, „Wanna play?“, Foto: Sascha Weidner

Dries Verhoeven, „Wanna play?“, Foto: Sascha Weidner

Ein Reigen an Männern kreist an mir vorbei.
Verfremdete Bilder, doch ich erkenne sie wieder.
Die Masse macht uns gleich, löscht Unterschiede aus.
Ich bleibe vor der Leinwand stehen und sehe: mein Profil, meinen Körper.
Verpixelt, doch ich erkenne mich sofort.
Mein Foto zerfällt in Quadrate und ich werde euphorisch.
Ich bin nicht mehr ganz, nicht mehr vollkommen, kann neu zusammengesetzt werden.
Ich bin ein Puzzle meiner selbst. Ich bin bereit.
Das hier ist keine Leere. Das ist ein Museum meiner selbst.
Ich bin glücklich.
Ich denke: wer hat das mit mir gemacht?
Wer hat meinen Körper und meine Gedanken in die Welt hinaus projiziert?
Aus dem Inneren des Glascontainers fällt Licht auf den dunklen Platz.
Ich sehe: einen Mann.
Ich höre: ein Klingeln.
Ich nehme mein Telefon und lese: komm rein.
Ich betrachte meinen Körper im Glas.
Annehmbar.
Ich bin noch jung genug. Noch schön genug. Gerade noch so.
Ich greife in meine Hosentasche.
Ich fühle: ein Kondom.
Ein zweites.
Die Tür öffnet sich von selbst.
Der Mann ist jünger als ich, unauffällig und klein.
Ich höre: seine seltsame Stimmfarbe, die mich sofort erregt.
Dunkel und weich, wie Seide.
Ich will ihn spüren, hier und jetzt, im Licht des hellen Containers.
Auf dem dunklen Platz, für alle zu sehen.
Ich werde eine öffentliche Person werden.
Doch er schüttelt nur meine Hand.
Ich fühle: den Druck seiner Finger, den Schweiß seiner Hand.
Ich höre: leise Musik aus den Boxen.
Ich rieche: das Essen auf dem Tisch.
Nebeneinander sitzen wir auf dem Bett, rund um uns nur Glas.
Ich sehe: die Leinwand auf dem Platz vor uns.
Meine Nachrichten, wie absichtslos immer weiter auf den Screen geworfen.
Ich sehe: Menschen, die stehenbleiben und meine Phantasien lesen, meine Vorlieben.
Die mich studieren und betrachten, ohne zu wissen, dass ich vor ihnen sitze.
Ich fühle: meine Hand an seiner Schulter.
Ich spüre: ihn von mir wegrücken.
Ich sehe: die Spiegelung meines Körpers im Glas.
Ich denke: bin ich noch jung genug? Schön genug?
Ich höre: ich will nicht mit dir schlafen, mit niemandem hier.
Ich lade Männer zu mir ein und mache die Begegnung öffentlich, mache unser Treffen sichtbar.
Ich mache Schluss mit Verstecken. Ich erfülle dir jeden Wunsch, außer dem einen.
Welches Bedürfnis kann ich dir befriedigen? Such dir eines aus.
Ich sage: ist das ein Märchen, bist du eine Fee?
Ich höre: sein Lachen. Laut. Sicher.
Nein, das hier ist meine Kunst. Ein Ort, an dem wir spielen können, miteinander tanzen.
Sichtbarkeit zulassen. Begehren projizieren.
Er kocht mir Kaffee, in einer altmodischen Kanne.
Ich höre: das Zischen der Kanne.
Er dreht den Hahn der Wasserleitung auf, lässt das Wasser laufen.
Währenddessen wäscht er sich die Hände, richtet seine Haare im Spiegel.
Er reicht mir die Tasse, unsere Finger berühren sich.
Er legt sich neben mich, nimmt ein Buch und liest mir vor.
Ich höre seine Stimme, werde ruhig.
Er macht mir Essen.
Ich bleibe die Nacht.
Ich sehe: Menschen, die uns durch die Wände aus Glas beobachten, fotografieren.
Ein Reigen an Körpern, die uns nicht berühren.
Das hier ist keine Leere, das ist ein Theater für unsere Bedürfnisse.
Das hier ist Verführung ohne –
Ich finde: was ich nicht suche.
Ich bin glücklich.
Ich schaue auf die Uhr.
Ich lese: eine Nachricht.
Ich ziehe mich an und verlasse den Raum.

*

Dank an:
Arthur Schnitzler „Reigen“
Dries Verhoeven „Wanna play? (Love in the time of Grindr)“