Mit seinem Roman „Unterwerfung“ ist Michel Houellebecq der Bühnen-Hit der Saison gelungen. Welche theatrale Form finden die Bühnen für dieses provokante Werk?
Ich hätte doch versuchen sollen zu beten
Dresden, Berlin, Hamburg, Wien: Alle Theater reißen sich um Houellebecqs „Unterwerfung“. Der französische Autor entwirft darin ein Zukunftsszenario, in dem eine islamistische Partei im Jahr 2022 die Macht in Frankreich übernimmt und sich die gesamte Intelligenzia ohne Widersprüche in das neue System fügt. Dieser Inhalt ist nach den Diskussionen um das Buch hinlänglich bekannt. Doch auch abseits der skandalträchtigen Oberfläche spricht Houellebecq spannende Themen an.
Der Roman beginnt mit einem Zitat des Romanciers Joris-Karl Huysman: „Ich hätte doch versuchen sollen zu beten.“ Mit diesem Satz ist sofort auch der Grundkonflikt beschrieben: das Schwanken zwischen Atheismus und Religiosität, Liberalität und Unterwerfung. Houellebecq macht es seinen Leser_innen jedoch nicht einfach. Wie immer bei ihm kann das alles so und so gelesen werden: als rechte Fieberphantasie oder als Satire auf eine ebensolche. Auch die Hauptfigur bietet keine einfache Identifikationsmöglichkeit: Antriebslos, einsam und sexuell frustriert beobachtet François die Vorgänge mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Den distanzierten Blick seines Ich-Erzählers, der an einer Stelle sagt: „Ich war politisiert wie ein Handtuch“, zwingt Houellebecq auch seinen Leser_innen auf. Wie gehen die Aufführungen in Hamburg und Wien mit der geschickten Gratwanderung des Autors um, durch die die Intention des Werkes nie genau festzulegen ist? Welche Umsetzungen, welche Bilder finden sie für die Lakonie und den Zynismus des Textes?
Der Autor als Bühnenfigur
Was beide Inszenierungen eint: ihre Fokussierung auf den Autor. Edgar Selge sieht in Hamburg aus wie Houellebecq. Sein erster Satz lautet: „Das ist er, Houellebecq“, womit er die Stimme meint, die via Plattenspieler Chansons singt. In Wien hängt die Houellebecq-Karikatur über der Bühne, die am 7. Januar 2015 das Charlie Hebdo-Cover zierte, dem Tag, an dem die Redaktion der Zeitschrift von islamistischen Attentätern angegriffen wurde. In diesem Maß wird wohl nur noch Elfriede Jelinek als Figur auf die Bühne gezerrt, wenn ihre Texte inszeniert werden. Die Aufführungen selbst jedoch könnten unterschiedlicher nicht sein.
Gesellschaftspanorama und große Ich-Show

© Chloe Potter
Die Inszenierung in Wien sieht aus wie Castorf light. Oder Warlikowski. Irgendetwas, wo Glaskuben auf der Bühne stehen und Videokameras bedient werden. Die Figuren erinnern an chic-abgefuckte Berliner WG-Bewohner_innen, die zwischen nackten Betonwänden die Sätze Houellebecqs fast beiläufig und um Lässigkeit bemüht sprechen. Ali M. Abdullah und Dramaturgin Hannah Lioba Egenolf fächern den Roman dialogisch auf, stellen nicht nur François auf die Bühne, sondern auch zahlreiche Nebenfiguren und erweitern das Figurenpanorama des Buches sogar noch um sechs junge Studierende des diverCITYLAB. Die Ich-Form des Buches wird zum Gesellschaftspanorama erweitert. Abdullah bezeichnet den Roman im Programmheft als „einen der spannendsten, die es zurzeit gibt“, dementsprechend wenig wurde auch gekürzt. Ganze drei Stunden dauert die Aufführung, kaum ein Handlungsstrang fehlt. Das Theater stellt sich hier ganz in den Dienst des Romans.
Auch in Hamburg dauert die Aufführung zwei Stunden vierzig, auch hier hat man wenig gekürzt, und dennoch ist der Ansatz ein gänzlich anderer. Karin Beier und Dramaturgin Rita Thiele setzen den Roman als große Solo-Show für Edgar Selge um. Die Ich-Perspektive wird konsequent und radikal übernommen, der Text verwandelt sich in den Stand-Up Bericht eines scheiternden Intellektuellen. Die Handlung findet nur in François‘ Kopf statt, alle anderen Figuren werden durch seine Linse portraitiert und von ihm gesprochen. Diese Zuspitzung zeigt sich auch im Bühnenbild. Olaf Altmann hat eine schwarze Wand gebaut, in die ein überdimensionales Kreuz geschnitten ist, das durch ein Rad im Kreis gedreht wird: Mal steht es gerade, mal kopfüber. Die Frage der Religion ist so schon als Bild präsent, findet seine Entsprechung aber auch in der Textfassung, die dem Ringen mit christlichem Glauben erstaunlich viel Platz einräumt. Wie schon in Wien endet auch die Hamburger Aufführung mit der Imagination des Übertritts zum Islam und dem Satz: „Ich hätte nichts zu bereuen.“
Nach mir die Sintflut

Edgar Selge in Hamburg, © Klaus Lefebvre
Die Wirkung der beiden Aufführungen ist gänzlich unterschiedlich. Die Hamburger Aufführung ist großartig gespielt, vor allem aber konzeptionell wunderbar gedacht: Dem bürgerlichen Publikum im großen Saal wird ein Paradebürger aus den eigenen Reihen vorgeführt, der kalt und zynisch über die Vorgänge Auskunft gibt. Das führt zu einem Erkennen, zu spannenden Rückkopplungen zwischen Bühne und Zuschauerraum, zu einer Spannung, die den ganzen Abend anhält. Im Roman benennt François seinen Geisteszustand mit „Hinter mir die Sintflut“, fragt sich aber was wäre, wenn die Sintflut schon vor seinem Ableben einträfe. In Hamburg schaut ein bürgerliches Publikum mit wohligem Schrecken auf eine Zeit nach der Sintflut, die sie selbst vielleicht nicht mehr erleben wird.
Und dennoch bleibt ein Unbehagen zurück: In vielen Szenen trimmt Selge die Houellebecq-Phrasen auf Pointe, sucht und findet den schnellen Lacher. Doch gerade dieses Unbehagen passt zum Text und ist eine schöne Entsprechung für dessen Doppeldeutigkeit. Das gilt auch für die Bühne: Ist das überdimensionale Kreuz zu Beginn fast platt, wird es im Laufe des Abends faszinierend genutzt. Selge predigt davor, erklettert es, nutzt es als Ruheort und Kampfarena. Die Auseinandersetzung mit Religion wird zum physisch spürbaren Bild. Am Ende fährt das Kreuz nach hinten weg und verschleierte Frauen huschen über die Bühne: Der Islam ist nur Stellvertreter für andere Kämpfe, für einen tiefergehenden Wunsch nach Spiritualität. Karin Beier braucht nur wenige theatrale Mittel, um diese Botschaft herauszuarbeiten.
Postmigrantische Gesellschaft und Bürgertum

Die Aufführung in Wien, © Chloe Potter
In Wien kämpft Abdullah mit härteren Bandagen. Doch Video, Bühne und Musik nützen erstmals nichts: Durch die Aufteilung des Textes auf mehrere Figuren wird deutlich, dass die Sprache keine dramatische ist. Vieles klingt seltsam gestelzt und unnatürlich (auch deshalb, weil die sprachliche Umsetzung zu wünschen übrig lässt). Im coolen Rahmen entsteht erstmals Langeweile. Dass hier ein Ringen mit Religion stattfindet wird nur behauptet, nicht gezeigt. Jene Episode, in der François in die Abtei von Ligugé geht, um sich mit der eigenen Religiosität auseinanderzusetzen, wird zur schnell heruntergespulten Nummer im Jugendclub. Abdullah sagt: „Houellebecq beschreibt ein zum Scheitern verurteiltes Europa.“ Doch für den Spott, den der Autor für dieses Europa übrig hat, findet die Aufführung keine theatrale Entsprechung, dementsprechend wenig gelacht wird in Wien.
Doch auch ihren Schmerz nimmt man den Figuren nicht ab, dafür sind sie einfach zu lässig. Das verunsicherte Bürgertum der Romanhandlung kommt weder auf der Bühne noch im Zuschauerraum vor, die Lücke wird aber auch nicht durch etwas anderes gefüllt. Dabei gäbe es durch die Besetzung die ideale Möglichkeit dazu. Die Studierenden des diverCITYLAB, das nach eigener Aussage versucht, „dem Gegenwartstheater ein neues, unserer postmigrantischen Gesellschaft angemessenes Gesicht zu geben“, könnten der männlichen, weißen, bürgerlichen Perspektive des Romans ein anderes Bild von Welt entgegensetzen, ein vielfältigeres, jüngeres, realistischeres. Allerdings bleibt es beim Konjunktiv, denn inszenatorisch wird mit den Jugendlichen nicht viel gemacht, sie dürfen etwas Party feiern und hin und wieder kurze Erzähltexte sprechen. Reibungsfläche für oder Widerstand gegen den Houellebecq-Text bieten sie nicht.
So fehlt im Werk X gerade jene Spannung zwischen Bühne und Zuschauerraum, die die Aufführung in Hamburg so spannend macht.
Erschienen in: gift – Zeitschrift für freies Theater